Startseite | Aktuelles | Wie in Frieden leben? – Zum Beitrag der Freimaurerei

Wie in Frieden leben? – Zum Beitrag der Freimaurerei

Prof. Dr. Hans-Hermann Höhmann, Köln
Redner der Großloge A.F.u.A.M. von Deutschland

 

 

Wie in Frieden leben? – Zum Beitrag der Freimaurerei

Vortrag, gehalten auf der Matinée-Veranstaltung der Loge Symbola in Bielefeld am 29. April 2017

 

„Die Welt ist aus den Fugen geraten.“ So beschrieb Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kürzlich die Weltlage angesichts der vielen gegenwärtigen Krisen und Kriege. Auch wenn die Wahrnehmung dieser Krisen hin und wieder überzogen erscheint und vor allem in Wahlzeiten politisch instrumentalisiert wird, so ist doch unübersehbar, dass alle Bereiche der modernen Gesellschaft, die äußeren wie die inneren, von ihnen betroffen sind. Da ist der Nahost-Konflikt inmitten des Krisenbogens zwischen Syrien, Libyen, Jemen und Irak. Da ist Afghanistan, das nicht zur Ruhe kommt. Da sind die Auseinandersetzungen in und um die Krim und die Ostukraine. Da sind die Konflikte zwischen Israel und Palästina. Da sind die Bürgerkriege und Hungerkatastrophen in Afrika. Die sind die Spannungen in Venezuela und anderenorts in Südamerika. Und auch auf dem Balkan, diesmal in Mazedonien, ist es jüngst wieder unruhig geworden.

Die Lage wird dadurch weiter kompliziert, dass internationale Auseinandersetzungen durch ethnische und religiöse Konflikte innerhalb der betroffenen Regionen überlagert werden, dass dabei neue nichtstaatliche Akteure in Erscheinung treten, wie der „islamische Staat“, dass sich mit diesen Akteuren eine erschreckende Verbindung von mittelalterlicher Barbarei und moderner Reproduktion durch das Internet entwickelt hat und dass der Terror dieser Gruppen inzwischen die ganze Welt erreicht hat hat.

All diese Konflikte – durch soziale Missstände verschärft – lösen wiederum Flucht- und Migrationswellen aus, die ihrerseits die Aufnahmeländer krisenanfälliger machen.

Doch auch innerhalb der etablierten demokratischen Gesellschaften, in der „westlichen Welt“, haben sich – teilweise hausgemacht und unabhängig von der konkreten internationalen Situation – mannigfaltige Krisen entwickelt: soziale Krisen, ökonomische Krisen, Krisen politischer Akzeptanz, Vertrauenskrisen im Verhältnis zwischen Bevölkerung und politischer Führung, anwachsender Rechtspopulismus, Krisen im Umgang der Menschen miteinander (Stichwort „Rüpelrepublik“), zunehmende Kriminalität schließlich Krisen in der Selbstwahrnehmung und im Selbstbewusstsein der Menschen.

Nähert man sich nun all diesen Unerquicklichkeiten, Turbulenzen und Verwerfungen mit der Frage nach Auswegen, so stößt man gleich am Beginn auf ein großes übergreifendes Problem:

Durch die mediale Informationsüberflutung unserer Tage war es einerseits noch nie so leicht, sich mit Wissen zu versorgen, doch andererseits auch noch nie so schwer, sich in der scheinbaren Unterschiedslosigkeit unendlich verfügbarer Informationen zurechtzufinden.

Aufklärung heute als Voraussetzung solider Politik erfordert daher nicht zuletzt eine sorgfältig-beharrliche Annäherung an Fakten und die Einübung in verlässliches Unterscheidungsvermögen. Eine der am meisten bohrenden Gegenwartsfragen lautet doch zweifellos: Was eigentlich sind Fakten in der Mediengesellschaft? Gibt es sie überhaupt noch, oder ist die Wirklichkeit längst hinter einer bloßen Informationsfassade unerreichbar geworden oder sogar kollabiert, wie der französische Philosoph Jean Baudrillard jüngst behauptet hat?

Der sich immer mehr verstärkende Tendenz, die Realitäten der Gesellschaft nicht auf der Grundlage von Ermittlung und Prüfung von Fakten zu verstehen und statt sorgfältig erarbeiteter Wahrheiten jeweils selbstfabriziert-opportune „alternative Fakten“ zur Hand zu haben, muss folglich effektiv entgegengewirkt werden.

Das gilt auch für die Freimaurer und Freimaurinnen, deren Diskurse durch die Einsicht geprägt sein sollten, dass sensibles Fragen wichtiger ist als vorschnelles Antworten und dass es genauer empirischer Analysen von Ursachen und Dimensionen der Krisen bedarf sowie einer gründlichen, analytisch fundierten Erörterung der Chancen, ihnen abzuhelfen.

Fragen wir nach diesen Chancen und versuchen wir dann, uns an eine mögliche politische Rolle der Freimaurerei heranzutasten, die sich ja vor allem auf die innergesellschaftlichen Krisenlagen zu konzentrieren hätte. Einerlei, ob es um innerstaatliche Entwicklungen geht, um internationale Beziehungen oder um die Gestaltung des künftigen Europas: stets hat das Gelingen von Politik vier unverzichtbare Vorraussetzungen:

  • Erstens muss ein möglichst widerspruchsfreier institutioneller Rahmen vorhanden sein, der aus verbindlichen Normen, aus Gesetzen von der Verfassung bis hin zu einzelnen Rechtsregeln und Vorschriften besteht. Ohne einen solchen Rahmen lassen sich politische Abläufe im Inneren wie in der internationalen Politik nicht zufrieden stellend regeln.
  • Innerhalb dieses Rahmens müssen zweitens klare, konsistente und ausreichend akzeptierte Konzeptionen für das Handeln der politischen Akteure vorhanden sein. Ohne fundierte Konzeptionen sind zieladäquate, effektive und zugleich effiziente Maßnahmen der Politik auf all ihren Feldern nicht zu gewährleisten.
  • Drittens muss es in allen Bereichen des politischen Nachdenkens, Entscheidens und Handelns leistungsfähige Akteure geben, Politiker, die mit „Leidenschaft und Augenmaß“ – so der große deutsche Soziologe Max Weber – politische Konzepte im Rahmen der gegebenen Institutionen professionell und wirkungsvoll umzusetzen verstehen.
  • Viertens schließlich gelingt Politik nur auf der Basis eines Bündels von positiv wirkenden kulturellen Faktoren, zu denen erster Linie Vertrauen, Motivationen, Mut, moralische Überzeugungen und Wertvorstellungen gehören: Menschen müssen nicht nur wissen, was sie tun und in welchem Ordnungsgefüge sie handeln, sie müssen auch wissen, warum sie handeln, und vor allem müssen sie über innere Maßstäbe verfügen, die sie verpflichten, ethisch verantwortlich tätig zu sein.

Und nun sind die Stichworte gefallen, die die Freimaurerei ins Spiel bringen. Denn wenn immer deutlicher wird, dass die zuvor skizzierten Probleme nicht allein pragmatisch zu lösen sind und vielmehr nach der Wertorientierung von Politik und Gesellschaft fragen lassen, und zwar nicht im Sinne von unverbindlichen Wertkatalogen, sondern im Sinne einer für Politik und Gesellschaft verbindlichen Wertpraxis, dann fühlen wir Freimaurer uns auf vertrautem Terrain. Schließlich fragen wir ja auch, was die integrierende, motivierende und verhaltensleitende Grundlage der modernen säkularen Gesellschaft ist, wenn Institutionen allein, Verfassungen, Normen, Rechtsregeln, staatliche Interventionen hierzu offensichtlich nicht ausreichen.

Ernst-Wolfgang Böckenförde, deutscher Rechtsprofessor und von 1983 bis 1996 Richter am Bundesverfassungsgericht, hat das Problem auf eine immer wieder zitierte – sozusagen „klassische“ – Formel gebracht:

„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt, mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren versuchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben …“

Damit stellt sich in der Tat die Frage nach den vorpolitischen, nach den moralischen, nach den kulturellen Grundlagen des Gemeinwesens, nach den Kräften, die in der Lage wären, die Welt diesseits und jenseits aller Normen und Institutionen auf eine stabile Weise zusammen zu halten. Es stellt sich – noch einmal Bundespräsident Steinmeier – die Frage nach dem „Kitt, der unsere Gesellschaft im Kern zusammenhält? Und danach, ob dieser Kitt auch für die Zukunft hält.“

Es ist nun für den Freimaurer ebenso überraschend wie befriedigend festzustellen, dass sein großer Vordenker Gotthold Ephraim Lessing die „Böckenförde Formel“ in seiner Schrift „Ernst und Falk – Gespräche für Freimäurer“ um 200 Jahre vorweggenommen hat.

Lessing fasst die Überzeugung Böckenfördes, dass der freiheitliche Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er um der Freiheit Willen durch Gesetz und Rechtszwang nicht selber schaffen könne, dem Sinne nach gleich in die Worte, dass der Staat die „schrecklichen Klüfte“ zwischen Staaten, Religionen und Ständen durch Gesetzeskraft nicht einreißen könne, ohne Staat und Gesellschaft zu zerstören. Zur Überwindung der schädlichen Trennungen“ zwischen Nationen, Religionen und sozialen Schichten bedürfe es vielmehr eines „zusätzlichen Werkes“, eines opus supererogatum, einer Ethik des Brückenbaus, und Lessing wünscht sich, dass es die Freimaurer sind, die es „mit zu ihrem Geschäft“ machten, daran kräftig Anteil zu haben.

Fragen wir also, wodurch die Freimaurerei heutzutage mit einem solchen opus supererogatum des sozialen Brückenschlags zur „moralischen Substanz des einzelnen und zur Homogenität der Gesellschaft“ beitragen kann.

In meiner Sicht können dies nur die Wertüberzeugungen, die Wertdiskurse und – vor allem – die Wertpraxis der Freimaurer und der Freimaurerinnen sein!

Freimaurer lieben Werte, Freimaurerei hat sich von Anfang an in Werte-Diskursen entfaltet, der Freimaurer – so hieß es bereits anno 1723 in den „Alten Pflichten“ – habe dem Sittengesetz zu gehorchen, und mit Worten darüber, wie sehr Freimaurerei in den Wertdiskursen der Aufklärungszeit beheimatet war, hat uns nicht zuletzt der Bielefelder Historiker Reinhart Kosseleck immer wieder entzückt: Freimaurerei als „moralische Internationale“, die Loge als das „bedeutendste Sozialinstitut der moralischen Welt des 18. Jahrhunderts“, die „Freiheit im Geheimen“, als „Geheimnis der Freiheit“, – wer von uns kennte diese Zuschreibungen Kossellecks nicht und hätte sich nicht an ihnen erfreut?

Doch mit dem Zauber des Vergangenen und mit dem Aufzählen all der schönen Wertbenennungen unserer Tradition kommen wir heutzutage nicht aus.

Die freimaurerische Werte-Erzählung für die Gegenwart bedarf einer neuen Struktur, und sie hat sich vor allem auf die Chance einer Bewährung in der sozialen Wirklichkeit von heute zu konzentrieren. Dazu bedarf es in meiner Sicht die Praxis einer humanitären Freimaurerei, die einen neuen Humanismus und eine selbstkritische, reflexive Aufklärung zur Grundlage hat.

Der Humanismus der modernen Freimaurerei ist für mich nicht zuletzt ein säkularer, ein weltlicher Humanismus. Doch gleichzeitig wäre dieser Humanismus in meiner Sicht ohne die spirituelle Dimension des freimaurerischen Rituals einseitig, flach und sowohl emotional als auch intellektuell verkürzt. Freundschaft, Werte und Ritual – so habe ich immer wieder zu begründen versucht – gehören untrennbar zusammen.

Unter den Werten, die Humanismus und Aufklärung für die Gegenwart begründen, sind die folgenden sechs – als Postulate gefasst – für mein Verständnis von Freimaurerei von besonderer Bedeutung:

  1. Leben, Wohlergehen, Freiheit und Glück jedes einzelnen heutigen Menschen sind Ziel und Maßstab des individuellen wie des gesellschaftlichen Handelns.
  2. Die Anerkennung der Menschenwürde anderer wie der eigenen Würde ist Grundbedingung menschlicher Kultur und Gemeinschaft.
  3. Das Vorhandensein von Empathie, Menschenliebe und natürlicher Solidarität ist unverzichtbare Grundlage einer zu innerem wie zu äußerem Frieden fähigen Welt.
  4. Die Förderung der schöpferischen Kräfte des Menschen ist Grundlage dafür, die Arbeit an der eigenen Persönlichkeit und an der Gesellschaft voran zu bringen.
  5. Denken und Handeln haben sich am Maßstab der Redlichkeit, Wahrheitssuche und Vernunft zu orientieren.
  6. Schließlich: Es ist Fortsetzung von Aufklärung erforderlich, verbunden jedoch mit der Einsicht, dass erst eine reflektierte Vernunft und eine selbstkritische Aufklärung als tragfähige Grundlagen menschlicher Lebensführung und sozialer Gestaltungsprozesse taugen.

Damit nun die Werte eines gleichermaßen auf Herkunft wie auf Zukunft bezogenen Humanismus im Bewusstsein der Menschen heutzutage präsent sind, damit sie in der Praxis etwas wert sind, müssen sie vermittelt werden – in der Freimaurerei wie in der Gesellschaft, deren Teil sie ist.

Hierzu bedarf es des individuellen und gemeinsamen Nachdenkens, Kommunizierens und Handelns. Und hierzu wiederum bedarf es nichts so sehr wie einer lebendigen Bürgergesellschaft, einer Zivilgesellschaft, die die Menschen – einzeln und ihren verschiedenen Gruppen – kooperativ zusammenbindet.

Gewiss: „Bürgerlichkeit“ schien in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts überholt zu sein. Aber heutzutage, in der Frühphase des 21. Jahrhunderts, nach Katastrophen, politischen Verwerfungen und grundstürzenden Systemumbrüchen scheint es wieder möglich geworden zu sein, Bürgerlichkeit zu reflektieren, sie auf die Ambivalenz ihrer Elemente hin zu untersuchen und ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft auszuloten.

Heute sind die Begriffe „bürgerlich“ und „Bürger“ wieder deutlich positiver besetzt. „Wir brauchen bewusste Bürger“, so war ein Interview der taz, der Berliner Tageszeitung, mit den Professoren Ralf Dahrendorf und Paul Nolte vom Dezember 2005 zum Thema „Die Bürgergesellschaft und ihre engagierten Intellektuellen“ überschrieben, in dem Dahrendorf vom neuen Typus Bürger sagt: „Seine Position ist nicht vom Staat abgeleitet, sondern beruht auf einer eigenen, selbstbewussten Haltung.“

„Ich wünschte mir, ein Bürger zu sein, nichts weiter, aber auch nichts weniger als das“, so zitierte Joachim Gauck in seiner ersten kurzen Ansprache nach der Wahl zum Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland am 18. März 2012 den politischen Publizisten Dolf Sternberger, und er bekräftigte den Wunsch Sternbergers als seine eigene politische Haltung.

Eine solche Idee bewusster und unabhängiger Bürgerlichkeit – so hatte schon vorher der niederländische Philosoph Stephan Strasser in seinen „Ethisch-politischen Meditationen für diese Zeit“ geschrieben – orientiert sich (Zitat) „am Ziel der rationalen Gestaltung der menschlichen Geschichte durch mündige, diskutierende, friedlich konkurrierende Individuen und Gruppen, im Glauben an die Möglichkeit des Fortschritts.“

Wie aber kommen diese Einstellungen in der politisch-gesellschaftlichen Praxis zustande?

Was sind sie in der politisch-gesellschaftlichen Alltagswirklichkeit wert?

Wie lassen sie sich im Habitus des Bürgers verankern, der ja nur durch eine solche habituelle Verankerung auf Dauer zum selbstbewussten Bürger wird?

Schließlich: Wie können Freimaurer und Freimaurerin sich als Bürger und Bürgerinnen verstehen und ihre Werte weitergeben an die Zivilgesellschaft?

Dies alles sind Fragen, über die wir nachzudenken haben.

Zunächst: Nützlich sind Werte für die Gesellschaft gewiss nicht durch eine bloße Werterhetorik, die eher abstößt und Verdruss bereitet, wohl aber durch eine Praxis, an der mitzuwirken den Freimaurern durchaus anstünde, eine Praxis anhaltender und nachhaltiger bürgerlicher Werteaneignung und Werteumsetzung.

Hierzu vier Überlegungen:

Erstens: Ein Hoppla-hopp neuer Wertorientierung gibt es nicht. Zur Praxis bürgerlicher Wertaneignung gehört ein komplexes und schwieriges Verständigungsprogramm, denn es gibt viele Fragen, die nach Antwort verlangen:

  • Welche Werte sollen gelten?
  • Wie verhalten sich die einzelnen Werte zueinander, Freiheit und Gleichheit etwa, oder – brennend aktuell geworden aufgrund der terroristischen Mordanschläge des „Islamischen Staats“ – Freiheit und Sicherheit?
  • Schließlich: Auf welche Weise sind Werte ganz konkret und gesetzestechnisch in Institutionenbildung und Politik umzusetzen – denn hier gilt ja Schillers „leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen“?

Eine solche Prüfung und Konkretisierung von Werten setzt die Anerkennung der Pluralität von Auffassungen und einen toleranten, redlichen Diskurs voraus, in dem sich Streit- und Kompromisskultur verbinden. Dabei geht es nicht nur um Wertorientierungen, es geht auch um eine im konkreten politischen Handeln belastbare Einsicht in die Strukturen der realen Welt, die immer unübersichtlicher werden, und die es schwierig machen, für politische und gesellschaftliche Herausforderungen Lösungen zu finden, die nicht nur den Werten entsprechen, auf die man sich beruft, sondern bei denen auch das erforderliche Maß an Alltagsvernunft nicht zu kurz kommt.

Zweitens: So wichtig eine Verständigung über heutige Realitäten ist, die notwendige Tiefe gewinnt dieser Diskurs doch nur dann, wenn er sich mit Erinnerungskultur und historischer Reflexion verbindet.

Die europäischen Bürgerkriege des 19. und 20. Jahrhunderts haben ja dem Europa der Aufklärung im Sinne einer den europäischen Eliten gemeinsamen Lebens- und Denkweise ein Ende gesetzt. An diese gemeinsame Lebens- und Denkweise hätte das heutige Europa wieder anzuknüpfen. Um aber an gemeinsame Vergangenheiten anknüpfen zu können, müssen die Europäer der Gegenwart – so hat es der in Harvard lehrende amerikanische Historiker Robert Darnton einmal formuliert – „einen Salto rückwärts über das 19. und 20. Jahrhundert springen und sich von neuem mit der europäischen Dimension des Lebens im Zeitalter der Aufklärung auseinandersetzen“.

Nicht, dass irgendwer das 18. Jahrhundert wieder aufleben lassen wollte – lebte damals doch die große Mehrheit der Europäer im Elend und war doch die Aufklärung selbst eine komplexe Bewegung voller Widersprüche und Gegenströmungen – Stichwort „Dialektik der Aufklärung“. Doch die Aufklärung ist nun einmal der Ursprung der freiheitlich-demokratischen Werte, die heute das Herzstück unserer Gesellschaft ausmachen und das in einer Form, die eine wirkliche, zukunftsträchtige Alternative zum Nationalismus und zum Fundamentalismus ermöglicht.

Freilich müssen europäische Werte heutzutage offen sein für tolerante Begegnungen mit den Werten anderer Kulturen, wenn sie auch ihren Kern bei diesen Begegnungen zu bewahren haben. Nicht aus Prinzip und Überheblichkeit, sondern deshalb, weil sich die europäischen Werte als Grundlage einer freien Gesellschaft ganz einfach pragmatisch bewährt haben.

Selbstverständlich gehören muslimische Mitbürger heute zu Deutschland und Europa, doch das bedeutet auch, dass sich der Islam – wie alle Religionen – in das Regelspiel demokratisch-pluralistischer Institutionen einzufügen hat und dass er dazu bereit zu sein hätte, dieses Regelspiel als Grundlage auch der eigenen religiösen und gesellschaftlichen Praxis zustimmend und aktiv mitzugestalten.

Drittens ist bürgerliches Handeln vonnöten. Es kommt auf eine aktive Teilhabe am Leben der Gesellschaft an, die nicht exklusiv ist im Sinne eines Ausschlusses anderer und die nicht daherkommt als eine „Bürgerlichkeit der feinen Leute“, sondern die

  • als eine Bürgerlichkeit der Einbeziehung aller wirkt,
  • als eine Bürgerlichkeit der sozialen Offenheit,
  • als eine Bürgerlichkeit, die andere mitnimmt und die auch die weniger Privilegierten in das gesellschaftliche Ganze einschließt.

Insofern darf Eintreten für „Bürgerlichkeit“ nicht als Absage an die soziale Verantwortung des Einzelnen und als Gegensatz zum Sozialstaat gesehen werden, dessen Notwendigkeit unbestritten bleibt.

Eine Einstellung bewusster, wertorientierter Bürgerlichkeit erfordert nicht zuletzt eine Mitwirkung in den vielen Gruppierungen der Bürgergesellschaft, – von den Familien über die Parteien, die Bürgerinitiativen, die Vereine, die Kindergärten und Schulen bis hin zu den Logen der Freimaurer und Freimaurerinnen – d. h. eine Mitwirkung in den zahlreichen vom Staat unabhängigen Initiativen und Assoziationen, deren Aktivitäten und deren Vernetzung allein eine humane Gesellschaft ermöglicht.

Denn es sind die mit Verantwortung gefüllten kleinen Freiheiten in der Gesellschaft, auf denen die große Freiheit der Gesellschaft beruht.

Eine bewusst und glaubhaft in der Tradition von Humanismus und Aufklärung stehende Freimaurerei findet hier Aufgaben, durch deren Wahrnehmung sie nach innen und außen überzeugen kann.

  • Dazu gehört zunächst die gemeinsame Aktion da, wo Brüder und Schwestern grundsätzlich übereinstimmen, weil die Werte des Freimaurerbundes so gründlich in Frage gestellt werden, dass es keinen „Bund der Ungleichgesinnten“ mehr geben darf – bei Rassismus vor allem, bei völkischem Nationalismus und bei fundamentalistischer Gewalt.
  • Dazu gehört das Forum „Loge“ für das Gespräch der Brüder (und Schwestern) über Probleme der Gesellschaft, über ethische und soziale Fragen.
  • Dazu gehört das Gespräch mit der Öffentlichkeit, mit den Menschen, die zu uns kommen, weil sie die gleiche Wertorientierung haben, wie wir selbst.
  • Dazu gehört das Gespräch in der Öffentlichkeit, in dem wir uns selbst zu Wort kommen lassen, und das auch durch noch so schöne Gastvorträge und Preisverleihungen nicht zu ersetzen ist.

Logen können sich als Gruppen engagierter Bürger aber auch selbst manch brennender sozialer Probleme annehmen. Die Zahl der Aufgaben ist Legion. Eine neue und akute ist die Eingliederung der zu uns kommenden und bei uns bleibenden Flüchtlinge, Asylbewerber und Migranten aus anderen Ländern. Hier zu helfen, hier Toleranz einzufordern, wäre eine Aufgabe, die den Brü­dern das Gefühl gemeinsamer Verantwortung vermittelt und zudem der Öffentlichkeit zeigt, dass Freimaurer nicht nur schöne Lieder und Reden, nicht nur gehaltvolle Diskurse, sondern auch praktische Hilfe anzubieten haben.

Schließlich und wiederum auf die Probleme der Integration bezogen: Freimaurer könnten sich als Übersetzer der politischen Kultur des Grundgesetzes bewähren.

Denn hierauf kommt es hier und heute in der Tat entscheidend an:

Alle deutschen Bürger, alle Menschen hierzulande, diejenigen, die bereits hier leben, die seit eh und je deutsche Bürger sind, aber auch alle, die kommen und zukünftig mit uns leben wollen, müssen den verfassungsmäßigen Rahmen unseres Gemeinwesens anerkennen und auch die dazu gehörende demokratisch-zivile Verhaltenskultur, das offene und friedliche Miteinander in der Gesellschaft, und zwar nicht nur durch Erklärungen und Unterschriften unter Asylanträge, sondern auch und vor allem im Verhalten, in der Alltagskultur, im tagtäglichen Handeln.

Gewiss: Wir müssen die Freiheitsräume von Minderheiten schützen, und wir müssen lernen, die Besonderheiten fremder Kulturen zu tolerieren. Denn Kultur bedeutet Heimat, die man auch und gerade in der Fremde braucht, und die ja auch einen beträchtlichen Zugewinn für uns bedeutet.

Doch dies gilt primär für die privaten Bereiche des Gemeinwesens. In den öffentlichen Bereichen, im Miteinander der gesellschaftlichen Gruppen, im sozialen Alltag wo auch immer müssen dagegen die Maßstäbe der Demokratie gelten und die Regeln eines bürgerlichen Respekts im Umgang miteinander. In der Politik muss es säkular zugehen. Religiöser Glaube muss privat sein, einerlei, um welche Religion es sich handelt, und die politischen Entscheidungen müssen von den Bürgern im Regelspiel der demokratischen Institutionen getroffen werden.

Sicherlich sind diese Bürger in vielen Fällen gläubige Menschen, aber es muss auf alle Versuche verzichtet werden, politische Richtlinien gleichsam vom Himmel herunter zu holen, – nachdem man sie zuvor nach oben hinauf projiziert hat.

Über all das sollten die Freimaurer sprechen, untereinander und mit der Gesellschaft, und zwar mit der von Max Weber, dem großen politischen Soziologen einmal angemahnten inneren Sammlung und Ruhe.

Die von Weber gleichfalls benannte Unkultur der „sterilen Aufgeregtheit“ taugt nicht für den gesellschaftlichen wie für den freimaurerischen Diskurs. Pegida-Parolen dürfen nicht in die Loge eindringen, und die Gespräche, die wir führen, sollten nicht den Fremdenhass und die Oberflächlichkeit der Internetforen und der Stammtische bei uns heimisch werden lassen.

Wir haben uns vielmehr in unserer Arbeit und bei den Diskursen unter uns und mit unseren Partnern in der Zivilgesellschaft an Prinzipien auszurichten, die zu den besten Überzeugungstraditionen unseres Bundes gehören und in denen wir Freimaurer und Freimaurerinnen sicher übereinstimmen: Menschenwürde, Demokratie, Toleranz, soziale Gerechtigkeit, Friede unter den Menschen und mit der Natur sowie die Bereitschaft, beim politischen Handeln vernünftigen und rationalen Lösungen den Vorrang einzuräumen gegenüber Vorurteilen und Ideologien.

Solche Orientierungen an europäischen Werten, Werten der Aufklärung zumeist, sind nicht dogmatisch, aber auch nicht beliebig. Sie repräsentieren vielmehr den erforderlichen Konsensrahmen für eine politische und gesellschaftliche Leitkultur, ohne die ethisch verantwortliches Handeln unter den komplexen Bedingungen der Welt von heute und morgen nicht möglich ist und bei deren Fehlen die Gesellschaft auseinander zu fallen droht.

Vor allem aber und zum Schluss: Nicht zuletzt wir Freimaurer sollten angesichts historischer Erfahrungen aus der Zeit von Weimarer Republik und Nazi-Diktatur sowie mancher Entwicklungen der Gegenwart, Stichwort rechter Populismus, die Bedrohlichkeit und das mörderische Potenzial von Vorurteilen und aggressiven Ressentiments zur Kenntnis nehmen und uns damit auseinandersetzen.

Die Welt wird auf absehbare Zeit nicht bequemer. Turbulenzen und Verwerfungen aller Art werden uns begleiten, national und international.

Auch für uns Freimaurer wird es nicht einfacher, sofern wir uns unseren Werten verpflichtet fühlen und uns nicht hinter die Mauern zurückziehen, die die Welt von unseren Tempeln trennen, zurückziehen in die Verantwortungslosigkeit und vielleicht gar noch unser Gewissen mit der Vorstellung beruhigen, dass das Politische doch tabu sei für uns.

Nein: Ein humanitärer Bund darf den Kopf nicht in den Sand stecken – es sei denn, er wäre entgegen allen Beteuerungen doch nichts anderes als eine esoterische Sekte.

Und seine Repräsentanten sollten endlich auch im Kontext der europäischen Freimaurerei ausloten, wo es Möglichkeiten gibt, den Problemen der Gegenwart, dem drohenden Zerfall Europas, dem Problem der Menschen auf der Flucht und dem damit verbundenen Problem der Integration entgegenzuwirken. All diese Probleme gehen ja weit über den deutschen Rahmen hinausgeht und sind europäische Probleme.

Handeln statt repräsentieren, Gedanken statt Zeremonien  – darauf käme es auf der europäischen Freimaurer-Ebene heutzutage an. Humanismus hat keine nationalen, er hat europäische Wurzeln, und er begründet für Deutsche wie für alle Europäer verpflichtende Traditionen.

Ob „wir es schaffen“ – um zum Schluss die berühmte Merkel-Formel aufzugreifen –, wer will das heute wissen. Doch zu resignieren, ohne es versucht zu haben, das kann doch nur das Leitmotiv derer sein, die gar kein Interesse daran haben, dass sozialer Fortschritt, dass Integration und dass innerer Frieden erreicht und gesichert werden. Und zu denen sollten Freimaurer und Freimaurerinnen nun wirklich nicht gehören.